Baugeschichtliches Erbe in Pößneck sichtbar machen

Philipp Gliesing

Kulturtouristisches und städtebauliches Potential für die Region wurde beim Ortstermin von MdB Sigrid Huppach (LINKE) mit der „Heinrich-Tessenow-Stiftung“ in Pößneck deutlich.

Am Mittwoch, den 14.09.2016, stellten Dr. Carsten Liesenberg, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie und Jürgen Padberg, Architekt und Geschäftsführer der pmp Projekt GmbH, das „Das gebaute Erbe Heinrich Tessenows in Pößneck“ vor. Die Bundestagsabgeordnete Sigrid Huppach (DIE LINKE) bekam, gemeinsam mit kommunalpolitischen Vertreterinnen und Frank Bachmann, dem Bauamtsleiter der Stadt Pößneck, einen hochinteressanten Einblick in die Städtebaugeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem damit verbundenen kulturtouristischen und städtebaulichen Potential für die Region.

Neues Wohnen bei Tessenow in der 1920ern

Vielen wird es gar nicht bewusst sein. In Pößneck befinden sich drei Siedlungen – Am Gruneberg, Am Gries und NeustädterStraße/ Saalbahnhofstraße – die auf das Wirken des Architekten Heinrich Tessenow (1876-1950) zurück gehen. Insgesamt sind es mit „aktuell noch 74 erhaltenen Gebäuden die umfangreichsten baulichen Zeugnisse“ des bekannten Vertreters der Gartenstadtbewegung und Reformarchitektur der 20er Jahre. In jener Zeit entstanden modellhafte Siedlungen mit neuartigen sozialen und architektonischen Formen, die auch gestiegenen Bedarfen einer sich entwickelnden, teils kleinteiligen Industrie-Stadt-Gesellschaft gerecht werden sollten.

Noch heute ist Am Gruneberg der „halblandwirtschaftliche“ Charakter, trotz zum Teil starker baulicher Veränderungen, erkennbar. Aufgereihte, aneinanderanschließende Hausparzellen mit je einem Garten und Stall zur Selbstversorgung, die in ihrer Systematik einen idealtypisch angelegten, sozialen Lebensraum formten. Parallel entstand 1921 die Ein- und Zweifamilienhaussiedlung Am Gries, wo heute noch zwei Gebäude in einem relativ unberührten Zustand sind. In der Flucht der heutigen Karl-Liebknecht-Straße ist deutlich die optische Hinführung in der Staffelung der Reihenhäuser erkennbar. Auch hier ist besonderes Augenmerk auf die Anordnung, Anzahl und Größe des Haustypus ganz bewusst in die umliegende Umgebung eingefügt.

Von 1922 bis 1923 enstand dann in der NeustädterStraße/ Saalbahnhofstraße ein bis heute erkennbares Mietwohnhaus-Quartier, einschließlich des denkmalgeschützten „Hufeisen“-Gebäudekomplexes, der einem größeren Wirtschaftshof nahe kommt. Erbaut wurden 11 von 18 geplanten Gebäuden. Tessenow und seinem Schüler Franz Schuster gelang es Wohnquartiere zu entwickeln, die eine hohe Funktionalität aufgewiesen haben und sich mit baulichen Variabilitäten in die topografischen und sozialräumlichen Gegebenheiten eingefügt hat. Die Menschen lebten nicht in monolithischen Blöcken oder überfüllten Quartieren, sondern in den eigenen vier Wänden. 

Kulturgeschichte, Denkmalschutz und Städtebau – das muss kein Widerspruch sein

Um im Einklang mit den modernen Anforderungen und Standards der Bausanierung einerseits, und den höchst indiviuellen Perspektiven der Hausbesitzer andererseits, „einen intensiven partizipativen Planungsprozess“ auf den Weg zu bringen, braucht es natürlich Kompromissbereitschaft auf allen Seiten. Dr. Carsten Liesenberg gab zu verstehen, dass die Denkmaleigenschaft immer auch eine Chance für unterstützende Mittel bei eigenen Sanierungsmaßnahmen bietet. Wichtig sei aber auch zu begreifen, dass einer Bewahrung des architektonischen Erbes von Tessenow nicht mit dem Erhalt von Fassaden genüge getan ist. Das Engagement der „Heinrich Tessenow Gesellschaft“ ist auf eine mittel- bis langfristige Bewahrung und städtebauliche Re-Integration dieser kulturhistorisch bedeutsamen Wohn- und Siedlungsformen ausgerichtet – und will kurzgesagt: Straßenbilder wieder erlebar machen.

In der einst unter Denkmalschutz stehenden Siedlung Am Gruneberg und den anderen beiden Quartieren haben natürlich große bauliche Veränderungen stattgefunden. Im Zuge der Privatisierungswelle Anfang der 1990er Jahre sind verschiedenste „Stilblüten“ entstanden, die weit von den Vorstellungen einer repräsentativen Tessenow-Denkmalpflege entfernt sind. Auch Frank Bachmann signalisierte, dass über projektorientierte, restaurative Maßnahmen im Straßenbau oder in Gebäuden von öffentlichen Wohnungsgesellschaften, sicher leichter zu sprechen sein wird, wenn entsprechende Fördermöglichkeiten bestehen. Von Seiten der Stadt besteht grundsätzliches Interesse an sinnvollen und nachhaltigen städtebaulichen Maßnahmen, gerade weil im Quartier am Unteren Bahnhof heute nur noch wenig Stringenz erkennbar ist.

Modell-Baustelle und kulturtouristischer Wert

„Der Leistungsumfang für eine städtebauliche Rahmenplanung und ein modellhaftes Einzelvorhaben wurde bereits ermittelt. Unbedingt sollte die Chance von „Bauhaus 100“ (2019) genutzt werden, das Vorhaben zu einem Teil des offiziellen Programms zu machen [...]“, heißt es im Exposé von Dr. Carsten Liesenberg. Mit Blick auf die touristische Anbindung der Region Ostthüringen, kann das Projekt als ein wertvolles Bindeglied in bestehende Projekte platziert werden. Der Mehrwert liegt in der Kombination von architekturgeschichtlichem Erbe, attraktiver Stadtentwicklung und identitätsstiftender Ausgestaltung des Projektes. Es wäre für Pößneck und die Anwohnerinnen ein Gewinn und für Thüringen ein weiteres Aushängeschild im ländlichen Raum. Eine Thematische Stadtführung zum Tessenow-Wohnkomplex gab es schon, und weitere können folgen. Auch dadurch kann sich eine Sensibilisierung für das Thema, wenn auch nur auf lokaler Ebene, erreicht werden.

Beim Anblick des leerstehenden Mietwohnhauses in der Neustädter Straße 101 waren sich MdB Sigrid Hupach und die Vertreter der „Heinrich-Tessenow-Gesellschaft“ einig, dass hier eine Modell-Baustelle entstehen könnte. Somit wären erweiterte Darstellungsmöglichkeiten (Ausstellungstafeln, Publikationen und Fachtagungen) am baugeschichtlichen Ort realisierbar, und es ließe sich ein weiteres Gebäude für die Denkmalpflege erschließen.    

Philipp Gliesing, stellvertretender Kreisvorsitzender der LINKEN, erkundigte sich zum Schluss des Gesprächstermins, welche Wege bereits gegangen worden sind, um kofinanzierte Fördermittel zu erhalten. Natürlich sind in die Stadt, die in den letzten Jahren viele lobenswerte und städtebaulichen Investitionen vorgenommen hat, bereits einige Mittel geflossen. Gerade wegen des kulturtouristischen Wertes des Projektes, muss das Konzept schnellstens in der Thüringer Staatskanzlei vorgelegt und wahrgenommen werden.

Die „Pößnecker Bauten“ stellen einen Schwerpunkt innerhalb verwandter Siedlungsprojekte in Polen und Österreich dar. Hier ist eine Zusammenarbeit über Ländergrenzen, besonders auch im Europäischen Jahr, denkbar. Neue Partnerschaften und neue Nachbarschaften – das wäre wohl auch im Sinne von Heinrich Tessenow gewesen.