Pößnecker Frauen im KZ Auschwitz

Philipp Gliesing
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Ein Beitrag von Philipp Gliesing, Mitglied der Initiative für Stolpersteine in Pößneck und Stadtführer zum Thema "Jüdisches Leben in Pößneck".

Die Lebensgeschichten von Esther Binder und Martha Trabert

Sie durchlebten die Hölle von Auschwitz – Esther Binder (*19.06.1924 in Jena) und Martha Trabert (19.05.1899 in Grodno/Russland).

Als die Nationalsozialisten 1930 in Thüringen erstmals in Regierungsverantwortung kommen, wird die Tochter des Kaufhausbesitzers David Binder gerade in die Pößnecker Bürgerschule eingeschult. Am 1. April 1933 stehen SA-Männer vor den Geschäftseingängen, beschmierten die Schaufenster mit Parolen und fotografierten die Kundschaft. Nun durfte der Klavierlehrer nicht mehr kommen. Schon wechselt Esther auf die Israelitische Schule in Leipzig und wohnte dort im jüdischen Kinderheim. Das Bindersche Ehepaar hatte sich eine bürgerliche Existenz aufgebaut, an die der Vater bis zu seinem Tod in Folge der KZ-Haft in Buchenwald im Januar 1939 festhielt.

Letzte Hoffnung: Hachschara

Nach den Novemberpogromen von 1938 und dem anschließenden Vermögensraub unter Leitung des Pößnecker „Arisierungsbeauftragten“ RA Dr. Kurt Pfeifer versuchten Esther und ihr Bruder Adolf Binder einen rettenden Weg über die von der „Reichsvereinigung der Juden“ verwalteten Auswanderungseinrichtungen nach Palästina zu finden. Doch als die 16-jährige im Oktober 1940 im brandenburgischen Havelberg eintrifft, sind die Fluchtmöglichkeiten schon abgeschnitten. Aus den „Hachschara-Ausbildungsstätten“ (Vorbereitung/Lehre) mit landwirtschaftlichen Lehrbetrieben werden 1941 schließlich Arbeitslager. Im Lager Neuendorf, südlich von Berlin, gehört Esther zu den letzten jüdischen Jugendlichen um die Pädagogin Clara Grunwald. Am 19. April 1943 erfolgt ihre die Deportation von Berlin mit dem 37. Osttransport nach Auschwitz.

Arbeitseinsatz bis zum Tod

Die Neuendorfer-Gruppe wurde auf Grund ihrer Ausbildung und körperlichen Verfassung zunächst komplett in Auschwitz aufgenommen – und zum Teil in der Lager-Kommandantur eingesetzt, wie überlebende Weggefährtinnen berichteten. Für Esther wurden nach 1945 mehrere Gedenkblätter in der Gedenkstätte von Yad Vashem erstellt. Doch von den wenigen Überlebenden gibt es keine aufgezeichneten Erinnerungen an ihre Todesumstände. Eli Heiman aus Tel Aviv kann nur bestätigen, dass sie noch zwei Jahre überlebte und eine Freundin hatte, und somit erst kurz vor der Evakuierung des Lagers ermordet worden war. Das deutet darauf hin, dass sie zu den 200 jüdischen Frauen gehörte, die im Januar 1945 in einer Massenerschießung hingerichtet worden waren. Ein Foto von der Exhumierung zeigt die Leiche einer jungen Frau, die zur Physiognomie von Esther passt.

Das Überleben in Mitten des Arbeits- und Vernichtungslagers hing stark von der Haftkategorie, dem Zugang zu Nahrung und der Art des Arbeitseinsatzes ab. Die Pößneckerin Martha Trabert berichtete nach 1945, dass sie von der Küche aus mitverfolgen konnte, wie Esther Binder in der Todeskolonne abgeführt wurde.

Hilfe für Zwangsarbeiter im Orlatal endet mit Gestapo-Haft

Martha Trabert erblickte am 19. Mai 1899 im russischen Grodno das Licht der Welt. Ihr Vater war Ostpreuße, der 1919 bei kriegerischen Auseinandersetzungen ums Leben kam und mit einer polnischen Jüdin verheiratet war. Sie stand mitten im Leben als sich ihre Welt 1933 plötzlich veränderte. So wurde der Obst- und Gemüsehändlerin schließlich auf Grund ihrer Abstammung verboten als Marktfrau zu arbeiten. Auch die 1920 geschlossene Ehe mit Alfred Trabert geriet unter Druck. Hausdurchsuchungen fanden statt, im September 1939 beschlagnahmte die Gestapo den Radioempfänger.

Als „Halbjüdin“, also mit einem „arischen“ Elternteil, drohte eine Deportation in der Regel erst, wenn ein weiterer Verfolgungsgrund vorlag. Durch einen selbstverfassten Lebenslauf für den Antrag auf Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ (1947) und durch einen Zeitungsbericht in der Volkswacht von 1961, sind die Hintergründe ihre Verhaftung bekannt. Demnach hatte sie Zwangsarbeitern, die im Orlatal unter erbarmungswürdigen Zuständen untergebracht waren, im Jahr 1942 etwas zu Essen zugesteckt. Nach Ermittlungen der Kriminalpolizei Pößneck wurde sie in die Gestapo-Keller von Weimar und Halle verschleppt, erlebte Folter und Gewalt gegen die Mitgefangenen, bevor sie schließlich von Berlin aus nach Auschwitz deportiert wurde.

Den Gaskammern entkommen

Wie andere Frauen war Martha Trabert bereits schwanger als sie Auschwitz erreichte, was einem Todesurteil gleich kam. Doch die Geburt des Kindes am 02. Februar 1943 (überliefert ist der Name Christa) erfolgte heimlich hinter einer Baracke. Der Säugling wird wenig später über ein Arbeitskommando nach Katowice gebracht. Martha Trabert erfährt nach 1945 über Suchanfragen, dass ihre Tochter in Hamburg bei Pflegeeltern aufwuchs, die aber offenbar keine Kontaktaufnahme wünschten.

Als politische Inhaftierte mit deutsch-polnischer Herkunft gelang es ihr bis zur Evakuierung des Lagers im Januar 1945 durchzuhalten. Und auch die folgenden Todesmärsche ins KZ Ravensbrück und das Außenlager Neustadt/Glewe überstand sie bis zur Befreiung durch die Rote Armee im Mai 1945.

Rückkehr in ein anderes Leben

Wie viele Holocaust-Überlebende kehrte sie mittellos und ohne Angehörige zurück in die alte Heimat. Sie stellte Suchanfragen und teilte den Behörden 1947 mit, dass sie als „Opfer des Faschismus“ immer noch keine Unterstützung erhalten hatte.

Alfred Trabert war im April 1945 bei einem Fliegerangriff in Gera ums Leben gekommen. Von ihren ihren sieben Geschwistern haben nur drei weitere überlebt, die mit der Mutter nach Israel ausgewandert waren. Neben der Suche nach ihrer Tochter, beschäftigte sie bald schon der Eichmann-Prozess in Israel. Denn als sie im Sommer 1960 die Zeitung aufschlug, erkannte sie den SS-Architekten des Holocaust sofort wieder. Sie war ihm kurz vor der Deportation in Berlin begegnet.

Schließlich kann Martha Trabert als DDR-Bürgerin 1961 nach Jerusalem reisen, um bei der Gerichtsverhandlung gegen Eichmann auszusagen. Der entsprechende Bericht in der „Volkswacht“ über „Häftling 34676“ ist politisch stark eingefärbt, vermittelt aber einen guten Eindruck von ihrer Willenskraft zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Ihr Lebensweg zeugt von einer starken Persönlichkeit, die sich vor und nach 1945 trotz aller Unwägbarkeiten für andere Menschen einsetzte, und an ihren eigenen Überzeugungen festhielt.

Am 05.Juli 1982 starb Martha Trabert im Alter von 83 Jahren und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Erfurt beerdigt.

Hinweise und Fragen zu den Lebensgeschichten bitte an kontakt@philipp-gliesing.de oder 0171/5608843.

 

Quellen:

  • ThStARu, Bezirkstag/Rat des Bezirkes Gera, VdN-Akte Martha Trabert, Nr. 7919.
  • R. Machold: Auschwitz-Häftling 34676, In: Volkswacht Gera vom 09.09.1961